Die zweite „Bildungsrevolution“
Soll man lieber etwas Handfestes lernen oder sich aufs Studium vorbereiten? Immer mehr Schüler entscheiden sich fürs Abitur. In den vergangenen Jahren verkündeten Bildungspolitiker fast immer Rekordmeldungen: So viele Schüler machen Abitur wie nie zuvor.
Immer mehr Studenten
In den Siebzigerjahren lag der Anteil der Jugendlichen, die eine Berufsausbildung wählten, noch bei 70 Prozent eines Jahrgangs. Inzwischen haben sich die Verhältnisse nahezu umgekehrt: Fast 60 Prozent eines Jahrgangs beginnen ein Studium. Besonders die gefragten Mint-Fächer, also Mathematik, Informatik, Natur- und Technikwissenschaften, studieren heute deutlich mehr - auch deutlich mehr Frauen. 2015 gab es 2,8 Millionen Studierende. Gerade gab es nur noch 522.000 neue Lehrverträge. Die Zahlen zeigen: In Deutschland findet nach der Expansion unter Willy Brandt die zweite Bildungsrevolution statt.
Immer weniger Lehrlinge, immer mehr Studenten: Der Trend der letzten Jahre setzt sich verschärft fort. Die Bedeutung der verschiedenen Karrierewege hat sich verschoben. Mehr Studierende bedeutet, dass mehr junge Leute auf höhere Bildung Wert legen.
Der Niedergang des Facharbeiters
Bislang war der Facharbeiter „das Rückgrat der Produktion“, wie der Berufsbildungsforscher Martin Baethge sagt. Das anerkannte Qualifikations- und Aufstiegsmodell führte über Hauptschule und Lehrstelle, und es war einmalig. Die Lehre als organisiertes dreijähriges Training am Arbeitsplatz gibt es nirgends sonst auf der Welt. Nun wird der Facharbeiter als deutscher Held aber abgelöst vom Akademiker. Seine Durchgangsstationen heißen Gymnasium und Hochschule. Ein Hochschulabschluss bringt einen deutlichen Einkommensvorteil. Der Einkommensvorteil von Hochschulabsolventen hat sich in Deutschland in zehn Jahren(Laut Statistik 2013) um mehr als 20 Prozentpunkte gesteigert - mehr als in jedem anderen Land. Und der Verdienstvorsprung zu den gering gebildeten Berufsgruppen wird immer größer. Das liegt vor allem an einem Absinken der Löhne bei Facharbeiter, die keinen Meister- oder Hochschulabschluss vorweisen können.
Das Abitur wird Zwang
Die Zahl der Jugendlichen, die das Abitur anstreben, stieg in den letzten Jahren bundesweit steil an. Das jahrzehntelange Klagen über die geringe Zahl an Abiturienten in Deutschland ist längst kein Thema mehr. Dabei wird das Abi schon fast zum Zwang. Längst sind nicht alle Schüler auf der höheren Schule richtig aufgehoben. „Ein Teil dieser Schüler ist von Anfang an überfordert“, heißt es in der Auswertung eines Projekts, das die „Gesellschaft für Jugendbeschäftigung“ in Frankfurt erstellte. Der Elternwunsch fürs Gymnasium entspricht nicht immer den realistischen Möglichkeiten der Kinder. Manche Gymnasiasten stürzen in eine Sinnkrise. Denn es fällt vielen der Jugendlichen schwer, die Schule aufzugeben und sich beruflich neu zu orientieren. Sie klammern sich an den Wunsch ihrer Eltern - das Abitur. Experten meinen, was die Jugendlichen wirklich brauchen, ist Orientierung, und den Mut, ihren Weg selbst zu bestimmen. Die Idee einer Bildungsrevolution ist es ja gerade, familiäre Festlegungen oder starre Schullaufbahnen aufzubrechen. Das setzt Träume und Aufstiegschancen frei.
Akademisierungswahn?
Der Niedergang des Facharbeiters und die Fieber des Studiums stiften viel Verwirrung. Die einen lamentieren über Akademisierungswahn; die anderen fordern, den Zugang zum Abitur wieder zu drosseln. Allerdings ist die Eintrittspforte ins Gymnasium keine Tür, die man einfach wieder zudrücken könnte.
Die Entwicklung hin zu höheren Qualifikationen ist eigentlich logisch und notwendig für den Wechsel von der industriellen Ökonomie in die digitale. Trotz des Anstiegs der Studienanfängerquoten liegen die Abschlussquoten der Hochschulen noch immer unter dem OECD-Durchschnitt. In anderen Ländern steigen sowohl Erstsemester als auch Abschlussquote noch in rascherem Tempo.